Leseprobe

Geschichten vom Meistermann (Ausschnitt)

(Zweieinhalb-Käsehoch)

 

„Heute iss nich so viel Schnee! Muss kein Schal aufsetze! Da braucht man so keine kalte Mütze!“

Mit einem kurzen Blick aus dem Fenster hat sich Max – kurz vor dem Abmarsch der Familie zum Weihnachtsmarkt – ein Bild von der Wetterlage gemacht.

Wenig Schnee bedeutet, es ist warm. Viel Schnee ist der Beweis für Kälte. Allerdings zeigt das Thermometer zwei Wochen vor Weihnachten –15 Grad. Es verlangt also ein Gemisch aus Überredung und sanfter Gewalt, um das Herrchen so dick einzumummeln, wie es der Temperatur und den eisigen Winden angemessen ist. Eine warme Zipfelmütze, deren Bommel dem Kleinen fast auf den Po herunter reicht, ein winterliches Mäntelchen, gefütterte Stiefel und Handschuhe ergeben ein zauberhaftes Zwergenbild. Noch lässt sich Max alles anziehen, hat kaum Vorlieben. Seine Eltern genießen bei solchen Anblicken die Gewissheit, dass es noch eine Weile dauern wird, bis er ihnen in verschlissenen, tief hängenden Jeans mit coolem Stolz sein erstes Piercing zeigt.

 

Als der mühselige Prozess der Einkleidung des zappelnden Kerlchens schließlich überstanden ist, sind Amélie und Lars heilfroh, endlich aus dem Haus zu kommen. Es wird bereits dunkel. Heute soll Max das erste Mal einen Weihnachtsmarkt erleben. Hoffentlich gibt es dort auch einen richtigen Weihnachtsmann. Das Herrchen fiebert seiner ersten Begegnung mit dem „Meistermann“ schon seit Tagen entgegen. Die schöne Doppeldeutung dieser Namensgebung gefällt seinen Eltern so gut, dass auch sie nur noch vom „Meistermann“ sprechen. So wird es wohl auch im nächsten Jahr bleiben.

 

Nach einer Viertelstunde im Auto ist ein schöner kleiner Weihnachtsmarkt im Zentrum der Millionenstadt erreicht. Hier dröhnen nicht die Boxen mit den Beats populärer Bands der letzten zwanzig Jahre; hier rasen keine wild blinkenden Gondeln mit kreischenden Teenagern durch die Lüfte. Stattdessen erklingen von Ferne Wiener Walzer. Sie beschallen ein kleines Rondell, auf dem sich Eisläufer im Kreis bewegen. Gegen die Musik von Johann Strauß können sich die klassischen Weihnachtslieder nur in der Nähe der Buden durchsetzen, aus denen sie abgestrahlt werden. So kommt es, dass man bei einem Rundgang mindestens zwanzig Mal musikalisch über die Romantik der „stiehielään Naacht“ informiert wird.

„Hast du meine Handschuhe eingesteckt??“

Amélie sucht verzweifelt in den Taschen ihres Mantels und in der Umhängetasche, kann aber nichts finden. Lars hat nur kleine Taschen in seiner dicken Lammfelljacke, kann also schnell herausfinden, dass er sie auch nicht hat.

„Meine Hände sind jetzt schon Eisklumpen! Bei diesen Temperaturen ist der Wind wirklich ätzend!“

 

Amélie vergräbt die klammen Hände in ihren Taschen. Wie gut, dass sie heute doch noch ihren eleganten Kunstpelzmantel angezogen hat. Sein helles Beige schien ihr erst zu empfindlich für den Ausflug ins weihnachtliche Gedränge. Ein dicker weißer Schal und eine Wollmütze schützen Hals und Ohren.

Max steht mit offenem Mund da und dreht sich dann langsam im Kreis:

„Wo iss Meistermann??“

 

Natürlich! Alles andere ist jetzt unwichtig! Hoffentlich gibt es hier einen diensttuenden Weihnachtsmann. Es wird Max’ erste Begegnung mit diesem Zauberwesen, nach dem er schon seit zwei Wochen jeden Tag fragt:

„Kommt morgen Meistermann??“

 

Der Besuch des Nikolaus hat die Sehnsucht eher noch angeheizt, denn der kam ja während der Kleine schlief und hat nur einige Süßigkeiten und kleine Spielzeuge in den Schuhen hinterlassen.

„Da hinten!“

Lars hat eine Bude entdeckt, auf der steht „Weihnachtsmann-Fotostudio“.

Als Max davon hört, will er so schnell wie möglich hin. Also ertönt der übliche Ruf: „Papa, Aarm – Papa, Aaharm!!“

Selbstverständlich kann man 50 Meter nicht alleine zurücklegen, wenn etwas so Wichtiges auf dem Spiel steht. Der „Meistermann“ könnte ja nach Hause gehen, kurz bevor wir bei ihm ankommen!

 

Durch die Fenster kann man ins Innere der Fotobude sehen: ein Thron, mit rotem Samt bespannt, links und rechts daneben geschmückte Tannenbäume. Aber kein Weihnachtsmann, niemand – gähnende Leere! Hinter einem kleinen Klappfenster schaut ein etwa sechzig Jahre alter Mann mit grauer Gesichtsfarbe ins Leere. Ein sanftes Klopfen erweckt ihn aus seiner Trance-Starre.

 

„Wo ist denn der Weihnachtsmann?“

Lars hat noch Hoffnung.

„Ist kurz mal weg, kommt aber gleich wieder“, ist die lakonische Antwort des aschfahlen Schädels.

„Drei Fotos – 20 Euro“, schiebt er noch mit monotoner Stimme hinterher.

Max dauert die Sache schon jetzt zu lange:

„Will Meistermann sehään! Wo ist Meistermann??“

Er zappelt ungeduldig auf dem Arm seines Vaters, der gleichzeitig versucht, seine Brieftasche zu öffnen, ohne dass ihm die Münzen in den Schnee fallen. Wenn der Weihnachtsmann aus dem gleichen Holz geschnitzt ist, wie sein Kompagnon, dann sind die Fotos mit 20 Euro aber verdammt großzügig kalkuliert! Gibt es noch Alternativen? Amélie hat seinen fragenden Blick verstanden: Nein, es gibt keine! Max wieder von dieser Bude loszueisen, dürfte fast unmöglich sein. Verstohlen deutet sie dann mit dem Finger auf eine Hütte, die sich ganz am Ende der Budengasse befindet. An einem Tischchen davor steht ein Weihnachtsmann. Vor ihm ein Bier und zwei Schnäpse! Wenn das aber nicht der Richtige ist? Bloß nicht Max darauf aufmerksam machen!

 

Also werden die 20 Euro durch das Fenster gereicht und stumm eingestrichen. Die Klappe schließt sich, dann starrt der Mann wieder durch die kleine Familie hindurch.

Amélie klopft ans Fenster:

„Können wir solange drinnen warten? Es ist mörderisch kalt!“

Mit einem mürrischen Nicken steht der Herrscher des „Weihnachtsmann-Fotostudios“ auf, schlurft zur Tür, schließt auf und lässt die Drei eintreten. Einen Fußabtreter gibt es nicht. Also ist hier ist schon der Schnee von vielen Stiefeln abgefallen und getaut, was den Holzboden der Bude klitschnass und glitschig gemacht hat. Amélie reibt sich erlöst die Finger über dem kleinen Öfchen:

„So ein Mist, dass ich in der Hektik des Aufbruchs meine Handschuhe vergessen habe. Ich hab’ sowieso schon ständig kalte Hände, aber bei diesen Temperaturen sind die bald steif gefroren!“

 

Lars erklärt Max den Thron des Meistermannes, um ihm die Wartezeit zu verkürzen. So sehr der Kleine dem ersten Treffen mit dem großen Roten entgegenfieberte – jetzt, nach dem Eindringen in dessen ureigenes Territorium – wird ihm doch schon recht mulmig. Er hört stumm Papas Erklärungen zu und klammert sich an dessen Jacke fest.

 

Plötzlich öffnet sich die Tür: Ein dicklicher Hüne – vielleicht Ende 60 – tritt mit lautem Ächzen ein. Er ist ausstaffiert er mit allen Elementen des Theaterkostüms, welches sich Coca-Cola Werbestrategen vor Jahrzehnten für ein Maskottchen ihres braunen Zuckerwassers ausgedacht hatten und das heute von den meisten Menschen für die jahrhundertealte Berufskleidung der weihnachtlichen Segensgestalt gehalten wird. Bevor der Weihnachtsmann die Familie erreicht hat, ist schon die Wolke aus Bier- und Schnaps-Dünsten eingetroffen, die er vor sich her schiebt. Offenbar war es heute Nachmittag nicht sein erster Besuch an der Schnapsbude. Seine Augen blitzen fröhlich. Er scheint ein munterer freundlicher Geselle zu sein, der es genießt, mal einige Zeit der häuslichen Aufsicht von Mutti entronnen zu sein. Genau so stellte sich Lars immer einen glücklichen Weihnachtsmann vor.

 

Der „Meistermann“ will Max begrüßen. Den hat allerdings sein Mut nun gänzlich verlassen. Er vergräbt das Gesicht stumm im weichen Wildleder der väterlichen Felljacke. Der Weihnachtsmann hat sich derweil mit einem vergnügten Seufzen auf dem Thron niedergelassen. Der Mann von der Klappe steht nun hinter dem Kamerastativ. Ach so, das hätten wir uns doch gleich denken können: Er ist der Fotokünstler! Amélie wundert sich über ihre Naivität. Unterbewusst hatte sie erwartet, der Fotograf käme noch. Vielleicht hatte er sich zusammen mit dem Weihnachtsmann eine Stärkung genehmigt?

 

Wie soll man ein Foto machen, wenn sich das Kindchen nicht nur weigert, auf den Schoß des „Meistermannes“ zu gehen, sondern ihm nicht einmal nahe kommen mag? Wird er zu sehr genötigt, fängt Max sicher gleich an zu heulen. Lässt man sich zu lange Zeit, werden die drei bereits vor der Bude wartenden Familien ungeduldig. Deren Kinder drücken sich schon neugierig die Nasen am Fenster platt. Mehr als eine Familie passt aber nicht in das kleine Häuschen. Es muss jetzt also voran gehen!

 

Schließlich setzt sich Lars neben den Weihnachtsmann und nimmt Max auf den Schoß. Daneben zwängt sich Amélie, sodass der Kleine jetzt mit einem Händchen einen Finger von Papa und mit dem anderen einen von der Mama umklammern kann. Jetzt werden schnell hintereinander die drei Fotos geschossen. So schnell, dass sich der Gesichtskrampf angestrengter Freundlichkeit bei den Eltern erst lösen lässt, als alles schon wieder vorbei ist. Max starrt die ganze Zeit ernst auf den Fußboden. Egal – keine Zeit für Details. Dem Foto-Künstler ist es ohnehin gleichgültig. Schnell wird noch die Adresse aufgeschrieben. Heimlich hofft Amélie, dass die Fotos nie ankommen werden…