Leseprobe aus Band I von "Geheimprojekt Übermensch": Der Beginn von Kapitel 1

 

 

1. Kapitel

 

»Meine Damen und Herren, seine Exzellenz der Staatspräsident und die First Lady!!« Der Ruf des befrackten, seriös graumelierten Protokollchefs des präsidialen Palastes lässt das Gewirr des murmelnden Orchesters der etwa 300 geladenen Gäste im Festsaal schlagartig verstummen, so als hätte ein Dirigent den Taktstock gehoben. Jetzt öffnet sich der Vorhang in Form einer, mit edlen Hölzern und Ornamenten verkleideten, Flügeltür. Der Präsident schreitet seinem strahlenden Lächeln hinterher. Es leuchtet wie ein Scheinwerfer, der durch den Nebel der veratmeten Luft der Wartenden schneidet.

 

Trotz seiner fast 70 Jahre ist sein Gang gerade, das volle Haar dezent mit Pomade in einen exakten Scheitel gezwungen. Die regelmäßigen Züge des ehemals prototypisch-schönen Gesichts haben durch die Jahre Falten erhalten, die mit kräftigen Strichen Charakter auf die ehemals so unverbindliche – vielleicht gerade deshalb so massenwirksame – Ausdrucksarmut seines Gesichtes zeichnen.

Neben ihm trippelt seine Frau. Sie ist zwei Köpfe kleiner. Mindestens eine Dose Haarspray haben ihre Stylisten wohl gebraucht, um die kunstvoll ondulierten Locken zu zementieren. Nun reichen deren ausladende Schwingungen wenigstens noch bis zur Schulter des jugendlichen Alten, dessen treueste Gefährtin sie nun schon seit frühester Jugend ist. Die kindliche Unschuld ihrer Vertrautheit, die Selbstverständlichkeit ihrer Kameradschaft ist es, die beide nicht einmal ahnen lässt, wie viel unfreiwillige Komik oftmals im Erscheinen dieses strahlenden Duos liegt.

 

Sie spielen nicht: Sie leben in einer heilen, klar strukturierten Welt. Das Kleid der First Lady scheint aus einer der glanzvollen Operettenaufführungen entlehnt, wie sie vor Jahrzehnten auf vielen Bühnen zu sehen waren. Bodenlang umhüllt das zarte Rosa des Abendkleides den kleinen, fast ausgemergelten Körper der Präsidentengattin. Über und über mit Pailletten und glitzernden Steinchen besetzt, funkelt sie im Lichte der Scheinwerfer der vielen Fernsehkameras bei jeder Bewegung. Sie erinnert deshalb auch an die weihnachtlichen Kaufhausdekorationen, draußen in den großen Supermärkten der Hauptstadt.

 

Nur die intellektuellen Zyniker, welche die feste Verwurzelung des Präsidentenpaares in ihrer überschaubaren Welt bürgerlichen Glückes neidisch beäugen, lassen sich diskret mit vielsagenden Blicken vernehmen. Aber auch ihr stummes Gemurmel wird schnell erstickt, wenn sie der leuchtende Strahl des präsidialen Blickes trifft, der die erlesenen Gäste - die sich im Halbkreis applaudierend aufgestellt haben – suchend ableuchtet. Er forscht nach den beiden Agramoffs, dem Journalistenehepaar, dessen Errettung eine willkommene Gelegenheit bietet, sich und seine Regierung feiern zu lassen. Sind die vielen Jahre vergessen, in denen der Präsident sich immer wieder kopfschüttelnd verständnislos ärgerte, wenn James Agramoff wieder einmal seine Reden oder politischen Handlungen in einer der führenden Zeitungen oder Nachrichtenmagazine mit ironischer Distanz seziert hatte?

 

Besonders das unausweichlich-sarkastische Bonmot am Ende solcher Artikel wurde oft zum geflügelten Wort – nicht nur bei den politischen Journalisten, sondern besonders bei Politikern der Opposition. Nicht selten wurden diese ›Petite Phrases‹ (im Journalistenslang ›PPs‹ genannt) monatelang als die knappste und witzigste Zusammenfassung eines eigentlich komplizierten Sachverhaltes in der politischen Debatte gebraucht. Das Echo dieser ›PPs‹ jagte die Berater des Präsidenten zuweilen wie ein kläffender Hund, der sich von Zeit zu Zeit auch ihr in Hosenbein verbiss und einfach nicht mehr loslassen wollte. In einer Zeit, wo die komplexen Lianengeflechte, die den politischen Urwald zusammenhalten und verstricken, nur noch wenigen Eingeweihten durchschaubar sind, hat der Kampf der ›Petite Phrases‹, der Bonmots, der geflügelten Worte, die Rolle der sachbezogenen und mühseligen politischen Auseinandersetzung eingenommen.

 

Auf diesem Gebiet war aber auch der Präsident – ein ehemaliger Moderator von bunten Fernsehshows mit Tanz, Unterhaltung (und ohne tiefere Bedeutung) – schon früh ein einsamer Virtuose geworden. Seiner Fähigkeit, die komplizierte Welt in einem Satz zu erklären und dabei mit den Scheinwerfern seiner strahlenden Aura den Nebel des Zweifels zu durchdringen, hatte ihm schon mehrere Wahlsiege eingebracht: Er würde wohl ewig Präsident bleiben, wenn er nicht – obwohl niemand ernsthaft damit rechnete – irgendwann einmal stürbe.

 

Jetzt hat der präsidiale Suchscheinwerfer die Agramoffs gefunden. Sie stehen in der Mitte des Halbkreises der immer noch applaudierenden Gäste. Es hat sich eingebürgert, dass der Applaus erst dann verstummt, wenn der Präsident anfängt, zu sprechen. Alles andere hätte ihn vielleicht enttäuscht. Irgendwie können auch seine eifrigsten Feinde es nicht übers Herz bringen, den Scheinwerfer seines Strahlens durch vorzeitig abklingenden Applaus zum Erlöschen zu bringen. Keiner der Anwesenden ist verpflichtet, so lange zu klatschen: Man lebt in einer stabilen und reichen Demokratie. Der Präsident kann niemand wirklich bedrohen, geschweige denn einsperren lassen. Aber irgendwie will jeder ›applaudieren müssen‹; zumindest hier im präsidialen Palast, in seiner altersmild leuchtenden Nähe, beobachtet von den vielen Fernsehkameras und der versammelten Elite des Landes.

 

Der Geldadel ist ebenso gekommen wie die Spitzen der politischen Aristokratie, von denen einige ihre Ämter schon so lange besetzen, dass die Unterschiede zu ererbten Pfründen kaum noch auszumachen sind. Wie fast immer auf derartigen Veranstaltungen fehlt der eigentliche Adel der menschlichen Gesellschaften: Wissenschaftler und Denker, deren Schöpfungen das Leben jedes Einzelnen revolutioniert (und oft genug gerettet) haben, ohne dass sich die meisten Menschen dessen bewusst sind. Die Machteliten fühlen in allen Ländern, dass bereits die physische Anwesenheit der Geisteseliten den scheinbaren Glanz ihrer Zusammenkünfte als Theaterzauber entlarven kann. Vielen der wirklichen Schöpfer der menschlichen Gesellschaft steht ihr reicher Geist so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er in das Unterbewusstsein selbst der schlichtesten Gemüter eindringt und sich von dort aus als ein unbehagliches Gefühl des Durchschaut-Werdens ins Bewusstsein voranarbeitet, ohne dass man der so entstehenden Verunsicherung Einhalt gebieten könnte. Wer will sich diesem Gefühl schon freiwillig aussetzen? Da bleibt man doch lieber unter sich!

 

James und Klara Agramoff sind beide politische Journalisten und den hauptstädtischen Machteliten seit vielen Jahren bekannt. Besonders James ist wegen seiner tief grabenden Recherchen und seiner skalpellartigen Feder bei einigen gefürchtet, bei anderen geachtet. Klara hat lange die Rolle einer emsigen Zulieferin für die Arbeit ihres Mannes gespielt und gelegentlich versucht, durch eigene Artikel über neue Maler, Schriftsteller oder Regisseure aus dem Schatten ihres berühmten Mannes herauszutreten.

 

Seit einigen Monaten aber ist die etwas dickliche, mittelgroße 35-Jährige nun ein Star – nicht nur im eigenen Lande, sondern auf der ganzen Welt. Ihr forsch-mütterliches, rundes Gesicht und ihre rotbraune Pagenfrisur sind hunderten Millionen Fernsehzuschauern sehr vertraut geworden, als sie mit Richtmikrofon und Teleobjektiv bewaffnet in der Krone eines hohen Baumes hockte und so Bruchstücke eines der vielen Verhöre ihres Mannes durch einen hochrangigen Geheimdienstoffizier der feindlichen Großmacht einfangen konnte. Der unerreichte Höhepunkt dieses Tages: eine live Schaltung mit den größten internationalen Nachrichtensendern! Klara Agramoff hing – leise ins Mikrofon flüsternd – im Geäst des Baumes. So kommentierte und übersetzte sie die Fetzen des Verhörs ihres Mannes, die man im wackelnden Teleobjektiv schemenhaft erkennen konnte. Hier und da wurden sogar einige Fragen und Antworten mit Hilfe des Richtmikrofons aus dem offenen Fenster der Zelle von James Agramoff eingefangen!

 

Noch nie hatte es eine so spektakuläre Reportage im Ringen der beiden Staaten gegeben. Tagelang wurde sie auf allen Kanälen wiederholt. Jede Nachrichtensendung auf der Welt zeigte längere Ausschnitte. Wer hatte sich je zuvor solch ein Bubenstück getraut? Wie konnte sie auf feindlichem Territorium der Allmacht von Hundertschaften lauernder Geheimdienstagenten entkommen? Wie gelang es ihr, aus dem überwachten Hotel zu entwischen und in die Nähe der Gefängnisfestung zu gelangen? Sie würde ihre Geschichte sicherlich bald erzählen.

Nur so viel war schon jetzt klar: Ihre Bilder aus dem Baum rasten um die Welt, drangen Minuten später auch in die Büros der ›Spin-Doctors‹ des Präsidenten. Jetzt waren neue Realitäten geschaffen. Die zurückhaltende Diplomatie, mit der man den – wegen angeblicher Militärspionage verhafteten – Journalisten Agramoff hatte schmoren lassen, war nun keine Handlungsoption mehr. Eine neue Strategie musste her: Der Präsident war zur Rettung von James Agramoff durch die Bilder aus der Krone einer alten Eiche gezwungen worden!

 

Klara Agramoffs Landsleute, die Journalisten und – durch sie dirigiert –  der größte Teil der Weltöffentlichkeit jubelten: Niemals war jemand so weit, so clever und so schonungslos hinter die hohen Mauern und machtbewussten Fassaden der diktatorischen, gefürchteten und Geheimnis umwobenen Konkurrenzmacht eingedrungen. Die dicklich unscheinbare Klara Agramoff wurde in wenigen Tagen zur Heldin. So wie die Ehefrau eines, beim Herrscher in Ungnade gefallenen, fürstlichen Urahnen ihres Mannes, hatte auch sie ihre Sicherheit, vielleicht sogar ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um ihren Mann aus der Gefangenschaft zu befreien. Ihr Mittel war nicht duldsames Mitleiden, wie bei ihren Vorgängerinnen in der Reihe der liebenden Frauen der Agramoff-Fürsten. Klara hatte die Sprengkraft des symbolischen Bildes benutzt.

 

Im Schutze der Nacht war sie auf einen Baum geklettert, hatte das technische Team mit ihren Schnüren und Satellitenübertragungsgeräten in die benachbarten Büsche verwiesen. Klara war sich der Gefahr bewusst, dass man sie sofort nach ihrer Entdeckung aus dem gegenüberliegenden Geheimdienstgefängnis vom Baum herunter schießen könnte. Hinterher konnten sich die Verantwortlichen des diktatorischen Machtgefüges halbherzig entschuldigen; etwas von Spionage oder versuchtem Attentat, von Gefahr im Verzuge etc. verlauten lassen und ansonsten auf die rabenschwarze Nacht verweisen. In dieser Situation hätten die Wachen auf den Türmen innerhalb der hohen Mauern des Hochsicherheitsgefängnisses nur ihre Pflicht getan! Sie mussten ihren Oberst und den ausländischen Starjournalisten doch vor einem perfiden Attentäter schützen und hätten deshalb geschossen, bis ihre Magazine leer und die meisten Äste des Baumes zerfetzt gewesen wären. Dass dabei auch der Körper von Klara Agramoff durchlöchert zu Boden sinken würde, konnten sie doch nicht wissen! Wer sollte ihnen also eine solche Rettungsaktion übelnehmen, nur weil sie nicht ganz so verlaufen war, wie eigentlich beabsichtigt?

 

»Wohlan, endlich ein Mensch!«, hatte Napoleon angeblich ausgerufen, als ihm der alternde Goethe unter die Augen geschoben wurde. Dieser Satz ist als eine der klassischen ›Petite Phrases‹ in die Geschichte eingegangen – nicht zuletzt, weil die Eitelkeit des Dichterfürsten nicht müde wurde, diesen Ausspruch in Briefen an seine Zeitgenossen immer wieder zu zitieren. Eigentlich inhaltslos kann ein Satzfetzen durch die Umstände seiner Entäußerung und nachträgliche Deutungen eine Kraft gewinnen, die noch Jahrhunderte nachwirkt. An dieses Modell hatte sich einer aus dem Team der ›Spin-Doctors‹, der Redenschreiber und Psychotrainer des Präsidenten erinnert, als man eine Begrüßungsformel suchte. Mit ihr sollte der Präsident den Applaus durchschneiden und den Gestus bestimmen, mit dem er die Feier zur Rettung seines journalistischen Gegners aus monatelanger Haft der bösen Konkurrenzmacht zu vergolden dachte.

 

Ach, wie hatte sich der Präsident gefreut, als er die Vorschläge seiner Medienberater zur Begrüßung der Agramoffs hörte! Sein Instinkt für die richtige Kombination von Bild und Wort war sicher. Allerdings haperte es inzwischen mit der Erfindung neuer, einmaliger und treffender Gesten. Auch er spürte: Hier musste wirklich Neues her. Die bereits bekannten Redewendungen würden bei einem solchen Ereignis enttäuschen. Ein neues Stück, ein gespanntes Publikum – da darf man nicht mit alten Kamellen auftreten!

 

»Millionen von Menschen wollen Ihnen in diesem Moment mit Hochachtung und Bewunderung die Hand drücken. Ich habe das Privileg, der Erste sein zu können!« Dutzende Fernsehkameras fahren ihren Zoom aus und vergrößern das Bild der fest verschlungenen Hände von Präsident und Bürger. Sie spiegeln das Strahlen seiner Augen, die auf James gerichtet sind, als hätte der Charmepolitiker noch nie ein menschliches Wesen gesehen; als sei niemand anderes außer ihnen beiden auf der Welt. Von dem Bewunderten ist auf den meisten dieser Bilder nur der Hinterkopf zu sehen. Von vorne sieht er etwas gequält aus, irritiert und verlegen. Ganz aufgesogen von der Aura dieses schlichten Präsidentengemütes, dessen Strahlkraft er sich jedoch nicht entziehen kann.

 

Kaum hat James einige Worte des Dankes für die Anstrengungen des Präsidenten zu seiner Befreiung gemurmelt, ermutigt ihn schon das leuchtende Nicken des erfahrenen Showmasters, fortzufahren. Der warmherzig grinsende alte Herr scheint zu verstehen und mehr wissen zu wollen. James weiß eigentlich nur zu genau, wie sehr dieser Polit-Patriach unter Schwerhörigkeit leidet und vermutet, dass dieser nur Fragmente seiner Antwort versteht, wenn ihm seine treue First Lady nicht souffliert. In diesem Moment ist es egal. Er ist so umfangen vom wärmenden Charme dieses Mannes, dass er sich uneingeschränkt verstanden, aufgenommen und geachtet fühlt. Wie James mit ironischem Erschrecken später erzählte, ist in diesem Moment – ja sogar für den größten Teil des glamourösen Abendempfanges im Präsidentenpalast – seine jahrelange Aversion, vielleicht sogar Verachtung für diesen Mann und seine Politik, für die Mafia seiner Strippenzieher und die ihn unterstützende Geldelite, ausgelöscht.

 

»Sie haben die Strahlen Ihrer Liebe durch Gefängnismauern gesandt und in die ganze Welt gespiegelt!« Mit diesen Worten (Teil 2 der Liste der ›PPs‹ vom Klüngel der ›Spin-Doctors‹) begrüßt der Präsident nun Klara Agramoff. Er verbeugt sich tief und deutet einen eleganten Handkuss an. Mehrfach hatten seine Medientrainer ihm Videobänder vorgespielt, auf denen die elegant-französische Art des Handkusses ebenso zu sehen war, wie viele Beispiele der ungehörigen Entartung desselben, die allenthalben beobachtet werden können. Also reißt der Präsident Klaras Hand nicht nach oben, schmatzt auch nicht mit seinen Lippen einen Kuss auf ihren Handrücken. Nein, er beugt sich artig, behände, tief und haucht die Pantomime eines Kusses in Richtung ihrer unsicher-feuchten Hand.

 

Was sind das für Bilder, was für Texte! Bereits in diesen wenigen Sekunden hat sich die Suche der Fernsehmacher und Zeitungsredakteure nach geeigneten Aufmachern erledigt! Die Untertexte der Titelzeilen hat der Präsident mit seinem beiden ›PPs‹ geliefert; auch die Bilder dazu sind schon im Kasten. Ein Händedruck mit präsidialem Strahlen sowie der formvollendete Handkuss können unter diesen Schlagzeilen postiert werden. Wieder einmal lieben die von Zeitnot geplagten Journalisten ihren Präsidenten, der ihnen – wie schon so oft – die mühevolle Suche nach dem Aufmachertext und dem Bild auf der Titelseite abnimmt.

 

Die zierliche First Lady schließt sich den Glückwünschen ihres Gatten an. Sie umarmt James und Klara. Dabei glitzert nicht nur ihr Kleid: Auch ein paar kleine Tränen haben sich in den Augenwinkeln gesammelt. Die Agramoffs fühlen sich ganz aufgesogen von der Wärme des Präsidentenpaares. Man bedankt sich für deren Engagement bei der Rettung nach drei Monaten verzehrender Ungewissheit – mit der Aussicht auf lebenslange Haft in einem Arbeitslager, wie sie üblicherweise den ›überführten‹ Spionen in der fernen Großmacht drohen. Vergessen sind die wochenlangen Flüche, mit denen James den Präsidenten und seine Berater bedacht hatte, als er in seiner kalten Zelle einer Lungenentzündung entgegen zitterte, während sich immer deutlicher abzeichnete: Dies war kein Propagandaspiel! Die Geheimdienste pokerten hoch; seine Bewacher meinten es ernst! Hatte doch der Präsident erst vor kurzem die Begnadigung eines hochrangigen Spions verweigert, den man nun – durch die Inhaftierung von James unter ähnlichen Anklagen – freipressen wollte.

 

Das übliche Ritual: Keine Seite darf das Gesicht verlieren. Die Sandkastenspiele kleiner Jungen um die Abgrenzung ihrer Territorien wiederholen sich ständig auf der Bühne der Weltpolitik. Auf jeder Seite stehen alt gewordene Boys und beobachten, wer wohl obsiegen wird. Also kann man nicht nachgeben, selbst wenn einem das Spiel zu öde oder zu grausam geworden ist!

 

Deshalb hatte nicht der Präsident seine Rettung erwirkt, sondern Klara – mit ihren Bildern aus dem Gipfel des Baumes. Sie rasten um die Welt und zwangen ihn zum Handeln. Mehr noch aber verhöhnten sie die scheinbare Allmacht der Peiniger von James. Sie waren – inmitten ihrer Hauptstadt, im Innersten des größten Geheimdienstgefängnisses – vorgeführt worden. Schlimmer noch, nachdem Klaras Versteck enttarnt worden war, konnte man ihr zwar die Kameras, die Satelliten-Kommunikationseinrichtungen etc. wegnehmen, aber nicht die bereits live gesendeten Film- und Tondokumente.

 

Sie selbst war durch ihr Bubenstück immun geworden. Wie hätte es ausgesehen, nun auch sie zu verhaften, als eine Art roher Rache dafür, lächerlich geworden zu sein? So weit kannten sich die Geheimdienstprofis in der Mechanik der veröffentlichten Weltmeinung aus, dass sie wussten, dass sie mit Klara keinen weiteren Märtyrer schaffen durften!

 

Außerdem hatte Klara in ihren ersten Verhören einen genialen Geistesblitz, wie er gelegentlich durch den Adrenalinstoß äußerster Erregung hervorgebracht wird. Sie behauptete, weit mehr Bilder und Tondokumente via Satellit an ihren Sender geschickt zu haben, als diejenigen, die tatsächlich weltweit im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Angeblich hatte sie auch Sequenzen aus dem Verhör dokumentiert, in denen der Geheimdienstoberst James gegenüber bekannte, dass er von seiner Unschuld überzeugt sei, aber eine Verurteilung unausweichlich wäre, wenn der eigene Spion nicht gegen James ausgetauscht würde. Im Falle ihrer Verhaftung müsste ihr Sender diese Bilder natürlich ausstrahlen – bliebe sie aber frei, könne Klara garantierten, dass all diese Aufnahmen nach ihrer Rückkehr gelöscht würden. Das war ein erpresserisches Pokerspiel, aber die andere Seite verstand diese Sprache offensichtlich gut und wollte kein weiteres Medienspektakel riskieren.

 

Natürlich gab es diese Bilder und Tonbandaufzeichnungen nicht! Klara hatte alles live gesendet, was sie von ihrem Adlerhorst aus einfangen konnte. Sie war schon froh, dass wenigstens einige Bilder und Tonfetzen verwendbar waren. Die ganze Aktion hatte ja nicht mehr als 15 Minuten gedauert. Dann heulten schon die Sirenen von Geländewagen, welche die Umgebung des Gefängnisses mit Scheinwerfern absuchten und das versteckte Team auch bald gefunden hatten. Die Bildschirme der Geheimdienstzentrale präsentierten natürlich ständig alle internationalen Fernsehsender den wachsamen Augen der diensthabenden Offiziere, die prompt einen Großalarm auslösten.

 

Aber irgendwie war der Zorn darüber, dass der Präsident erst durch Klaras Bilder erpresst werden musste, sich für die Befreiung von James einzusetzen, von der strahlenden Aura des liebevoll parlierenden Präsidentenpaares, von den glanzvollen Lichtern des Ballsaales, vom andachtsvollen Lauschen der versammelten Geld- und Politaristokratie des Landes aufgesogen worden. Das bewusst miesepetrige Gesicht, die vorwurfsvollen Fragen und Anklagen, die sich James zurechtgelegt und mit Klara in langen nächtlichen Diskussionen erprobt und wieder verworfen hatte: Sie alle waren vergessen! Nichts davon wollte aus dem Nebel der Erinnerung auftauchen. Alles, was ihm einfiel, waren Bruchstücke, die ihm jetzt jedoch peinlich, deplatziert, undankbar oder kleinlich erschienen.