Leseprobe

 

aus Geheimprojekt Übermensch, Band II:

 

Brookman und Quaser

 

 

 

 

9. Kapitel

 

So vergehen drei bange Stunden, in denen der Hubschrauber in geringer Höhe durch enge Täler jagt und steil aufragende Felsen umschifft. Der Pilot scheint ein wahrer Künstler auf seinem Gebiet zu sein. Wegen seiner dunklen breiten Brille und der massiven Kopfhörer, die mit einem Mikrofon verbunden sind, ist von seinem Gesicht kaum etwas zu erkennen. Schließlich verlangsamt sich die Geschwindigkeit. In einiger Entfernung ist ein festungsartiger Schlosskomplex zu erkennen. Als sie darauf zu schweben, sieht man, dass er inmitten eines bewaldeten engen Tales liegt und von einer hohen Mauer umgeben ist, die eine weitläufige, sorgfältig gepflegte Gartenlandschaft umschließt.

Ein betoniertes kreisrundes Areal zeigt an, dass hier offenbar häufig Hubschrauber landen. Als die Maschine aufgesetzt hat, erkennen die Agramoffs, dass der Park und das Landeareal menschenleer sind – niemand scheint sie zu erwarten.

 

Das Geräusch der Turbine, die den modernen Helikopter antreibt, verstummt langsam, nur die Rotorblätter drehen sich noch im Leerlauf, als der Pilot aussteigt und seinen Passagieren beim Verlassen der Maschine behilflich ist.

 

Unter Führung von Ohma Lasa bewegt sich die Gruppe auf das Schloss zu, dessen weiß verputzte Wände schmucklos erscheinen würden, wären da nicht die aufwendigen Ornamente aus rotem Stein, die jedes Fenster umrahmen. Eigentlich ist es kein einheitliches Gebäude, sondern ein Komplex von ineinander verschachtelten Einzelstücken, die vermutlich im Verlaufe von Jahrhunderten gewachsen sind. Möglicherweise ist es aus einem kleinen Kloster hervorgegangen und durch zahlreiche An und Umbauten zu einem königlichen Refugium in der Einsamkeit der Berge geworden.

»Die Erklärungen, die man Ihnen schuldig ist, sollen von denen gegeben werden, die hierfür berufen sind.« Prinz Irusa hat sich zu den Agramoffs gesellt. James trägt jetzt die Box mit dem Ei, denn Klaras Erregung hat ihr die Kraft genommen, dies zu tun. Sie fürchtet jeden Moment, zu fallen und das Ei vielleicht zu beschädigen.

 

 »Ich verstehe Ihre Sorgen«, fährt der Prinz fort. »Bitte sehen Sie es nicht als Ausdruck von Gleichgültigkeit an, wenn ich Ihnen hier im Garten nichts dazu sagen möchte. Andere werden dies in einer Weise tun, die der Bedeutung des Momentes angemessen ist. Sie müssen – wenn es auch große innerliche Kraft und Disziplin erfordert – wieder zu der ruhigen Fokussierung auf das Wesentliche zurückfinden, ohne welche konzentriertes Denken und Fühlen unmöglich sind.«

James blickt nach hinten und sieht zu seiner Freude, dass zwei der intellektuellen Anzugträger das Gepäck der Agramoffs tragen. Man hatte es offenbar mit großer Geschwindigkeit vom Flugzeug in den Helikopter umgeladen. Er ist erleichtert.

 

Der Eingang zum Schloss ist durch ein riesiges, mit bunt bemalten Holzschnitzereien verziertes Tor geschützt. Als die Gruppe kurz davor anlangt, öffnet es sich wie von Geisterhand. Im Gegensatz zum Felsenkloster Semhur, in dem die Agramoffs ihre erste, so schicksalsträchtige Begegnung mit Prof. Brookman hatten, werden die Tore hier nicht von Mönchen, sondern von einer unsichtbaren Hydraulik bewegt. Menschen sind nicht zu sehen.

Die Gruppe erreicht einen Innenhof, von dem aus erkennbar ist, dass die verschiedenen Gebäudeteile so miteinander verbunden sind, dass sie fast kreisförmig zusammenwachsen. James und Klara fühlen sich an Burghöfe aus dem Mittelalter erinnert. Vielleicht ist dieser hier eine Nummer größer, aber doch ähnlich – mit seinen vielen kleinen Balkonen und Erkern, Türmchen und Fenstern. Im Unterschied zur Schlichtheit der Außenwände sind die inneren Schlossfassaden jedoch mit einer prächtigen Vielfalt von Bildern, Skulpturen und Ornamenten verziert, die dem Paar schon aus dem königlichen Palastkomplex in Amrasar bekannt vorkommen. Sie haben aber für all diese Opulenz jetzt kein Interesse und folgen dem schnellen Schritt des Prinzen, der sich auf eine Freitreppe zu bewegt, die offenbar den repräsentativen Haupteingang darstellt. Die alten Bekannten der Agramoffs – Etan Muma und Ohma Lasa – sind auf dem Weg hierher unmittelbar hinter ihnen gegangen, haben aber kein Wort gesprochen. War es gegen die Etikette, in Anwesenheit des Prinzen ungefragt zu reden?

 

Als sie zum Ende der Freitreppe aufgestiegen sind, öffnen sich die mit Vergoldungen reichgeschmückten Türen nicht wieder automatisch, sondern durch zwei junge Männer, die mit schwarzen Rollkragenpullovern und grauen Hosen bekleidet sind. Hätte man hier nicht eifrige Mönche oder Bedienstete in den klassischen Trachten vom Amthum erwarten müssen?

 

Statt dessen wieder ähnliche Gesichter wie bei ihren Begleitern im Helikopter: Jung, stolz, klug und verschlossen. Die Männer verneigen sich tief und stumm vor dem Prinzen und den Agramoffs. Die anderen werden ignoriert, als seien sie nicht vorhanden. Ist das professionelle Diskretion oder feindliche Arroganz, fragen sich James und Klara unwillkürlich. Muma, Lasa und die anderen scheinen diese Art der Nicht-Begrüßung durchaus selbstverständlich und angemessen zu finden, was die Agramoffs beruhigt.

 

  Nach den Worten des Prinzen hatten sie befürchtet, man würde ihnen – ähnlich wie bei ihrem ersten Aufenthalt – eine mehrtägige Ruhepause verordnen und sie durch Teilnahme an religiösen Zeremonien an eine Kultur der Stille heranführen, die für meditative Konzentration unerlässlich ist. Sorgen und Hoffnungen zerreißen aber ihr Herz – für Konzentrationsübungen ist jetzt keine Zeit. Als sie dem Prinzen durch die Gänge des Schlosses folgen, erwarten sie also, zunächst ein Zimmer als Aufenthalt zugewiesen zu bekommen und dann auf spätere Kontakte mit den – noch namenlosen – ›Berufenen‹ vertröstet zu werden.

 

Angesichts der auf sie von außen und innen einstürzenden Wahrnehmungen ist den Agramoffs entgangen, dass sie inzwischen nur noch zu dritt sind. Der Prinz steigt mit erstaunlich elastischen Schritten die Stufen im riesigen Treppenhaus hinauf und erreicht einen, an Decken und Wänden prachtvoll bemalten Flur, der zu zwei großen Flügeltüren führt, deren Oberfläche mit Intarsien aus Edelsteinen geschmückt ist. Davor sind zwei uniformierte Wachen postiert, die ihre Maschinengewehre präsentieren, als sie des Prinzen ansichtig werden. Zwei Bedienstete öffnen daraufhin die Flügeltüren von innen und lassen die Gruppe eintreten.

 

Wie angewurzelt stehen Klara und James im Raum: In der Mitte der reichgeschmückten, offenbar frisch restaurierten Audienzhalle steht ein moderner Schreibtisch. Dahinter und an beiden Seiten sind Regale gruppiert, die eine Fülle von Aktenordnern tragen. Vor dem Schreibtisch befinden sich vier elegante Schwingstühle für Besucher, in deren Richtung auch zwei der sechs Flachbildschirme weisen, die einen Teil des Schreibtisches ausfüllen. Offenbar sollen die Besucher während des Gespräches die Bilder und Texte verfolgen können, die der Besitzer dieses – scheinbar frei im Raum schwebenden – Arbeitszimmers aufgerufen hat.

 

Kaum haben die Drei den Raum betreten, da knallt schon eine seitliche Tür. Als sich die Blicke der Agramoffs in die Richtung dieses Geräusches lenken, bemerken sie, dass alle Wände des Saales mit Bücherregalen vollgestellt sind. Sie befinden sich also in einem dreifach verschachtelten Raum: ein Arbeitszimmer, welches in einer Bibliothek steht, die sich einen Jahrhunderte alten Audienz und Festsaal als Gehäuse gewählt hat. Die Mauern des festungsähnlichen Schlosses und die hohen Steinwälle, die seinen Garten umschließen, bilden weitere schützende Schalen um den Menschen, der auf seinem Schreibtisch ein Gewirr von Manuskriptseiten, Graphiken und Fotos hinterlassen hat.

»Endlich sind Sie wieder aufgetaucht, wir haben auf der ganzen Welt nach Ihnen suchen lassen!« Professor Brookman läuft mit schnellen Schritten auf Klara zu, ergreift ihre Hände, während er ihr tief und prüfend in die Augen schaut. Hinter den Gläsern seiner dick umrandeten Brille flackern die Augen mit brennendem Interesse. Dann wendet er sich zu James, der noch immer die Box trägt und umfasst diese von der Seite, so dass seine Hände auf denen von James liegen. Ein kurzer, nicht unfreundlich grüßender Blick – danach gilt die Aufmerksamkeit des wissenschaftlichen Wundertäters ganz dem rechteckigen Kasten, der durch eines von Klaras bunten Folkloretüchern verhüllt ist.

 

Im Gegensatz zu Klara hat James den wundertätigen Professor nie richtig gesehen. Obwohl der kräftige, gedrungene Körperbau und die hohe Stirnglatze des vielleicht 60jährigen Mannes keine gute Grundlage für eine eindrucksvolle Erscheinung bilden, geht James sofort ein Dichterwort durch den Kopf, dessen tiefe Wahrheit er schon oft bestätigt fand: ›Es ist der Geist, der sich den Körper baut.‹ Scharfe Falten zeichnen Brookmans Mundwinkel und Wangen nach, gestalten mit kräftigen Strichen die Stirn und umrahmen die Augenwinkel. Der Gestus des agilen Körpers und der Reichtum des Ausdrucks, mit welchem das Gesicht die Stimmung der Augen unterstreicht, sind ein erneuter Beweis für die Trefflichkeit dieses Aphorismus. Angesichts der strahlenden Aura dieses Menschen wird James schlagartig bewusst, wie lächerlich sein Wutausbruch in der Ruinenhalle von Semhur war.

Brookman dreht sich mit einer energischen Bewegung zum Prinzen um: »Ich bin Eurer Hoheit sehr zu Dank verpflichtet. Eine Wohnung ist für Sie hergerichtet worden. Wir werden einige Stunden brauchen. Vielleicht gibt es dann etwas zu sagen und zu durchdenken – vielleicht aber auch nicht.« Die selbstverständliche Bestimmtheit, mit der Brookman den Prinzen behandelt, unterstreicht das Gefühl der Agramoffs, dass der Wundertäter hier Hausherr ist.

 

»Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung«, erwidert der aristokratische Greis mit dem Anflug eines Lächelns. Sein Blick streift Klara und James mit Freundlichkeit und Wehmut, bevor er ihnen leicht zuwinkt und sich zum Gehen wendet. Die beiden Bediensteten folgen ihm.

Kaum hat der Prinz den Raum verlassen, wendet sich Brookman an die Agramoffs: »Aus dem Strom von Erlebnissen und Empfindungen, die Irusa gestern von Ihnen empfangen hat, können wir nicht schließen, ob das Wesen noch lebt! Davon hängt alles Weitere ab. Bitte folgen Sie mir! In wenigen Minuten werden wir wissen, wie es sich verhält.« Keine Erklärungen, keine Fragen nach den Geschehnissen der letzten Wochen: Warum verhält sich dieser Mann so ganz anders, als man es erwarten würde?

Brookman ist weiß gekleidet wie ein Arzt, der eben von seinen Patienten gekommen ist. Befindet sich auch unter diesem Schloss ein Komplex von Operationssälen und Laboren, wie die Agramoffs es unter der Ruine des Felsenklosters Semhur erlebt hatten? Dort war offensichtlich Klaras Ei befruchtet worden. Mit wessen Sperma eigentlich – oder war das Wesen im Ei ein Klon von Klaras Genom? Zwar hatten die Eheleute die Stille ihrer klösterlichen Luxuswohnung im Amrasar auch zur Wiedererweckung ihrer erotischen Beziehungen genutzt. War das aber ausreichend, ein Ei zu befruchten??

 

Die schroff erscheinende Schnelligkeit der Aktionen des Professors war Klara nicht nur aus den Erzählungen von Sergej, sondern auch aufgrund der eigenen Erfahrung in Semhur bekannt und überraschte sie umso weniger, als sie inzwischen begriffen hat, dass sich hinter jedem seiner Worte vielfältige Bedeutungen und fassbare Wunder verbergen können.

»Darf ich?« Prof. Brookman streckt seine Hände nach der Box aus, die James immer noch umklammert hält. Bevor er noch antworten kann, hat Brookman sie ihm abgenommen, auf den Schreibtisch gestellt und von den Schnüren befreit, die den Deckel festhalten. Abgenutzt, brüchig und mit vielen Flecken verunstaltet steht das armselige Behelfsgefäß nun auf den Papieren des Professors, der das Ei mit hektischen Bewegungen aus dem Pullover löst und dann die Oberfläche der Schale inspiziert. Langsam hebt er es aus dem kleinen Nestchen und dreht es vorsichtig in seinen Händen. Obwohl es nicht mehr als eine Minute dauert, erscheint den Agramoffs die stille Versunkenheit, mit welcher der Wissenschaftler das Ei immer wieder von allen Seiten betastet, eine Ewigkeit zu dauern.

 

»Lebt es??« Fast gleichzeitig stellen Klara und James die bange Frage.

»Nach all den Abenteuern, die es bestehen musste? Wir werden es gleich wissen, bitte folgen Sie mir.« Brookman umfängt das Ei mit beiden Händen und drückt es an seine Brust. Er strebt mit schnellen Schritten der Ecke des Raumes zu, aus der er vor wenigen Minuten aufgetaucht war.

 

Die Seitentür des Saales ist hinter Bücherregalen verborgen und führt zu einer Treppe, der sie nach unten folgen. Nach wenigen Schritten ist bereits eine Tür zu erkennen, die sich öffnet, als die Iris des Professors gescannt und seine Stimme identifiziert ist. Dahinter ändert sich das Ambiente radikal: keine Spur mehr von dem traditionellen Gemäuer, nur noch sterile Modernität und Funktionalität, wie es die Agramoffs bereits in den Gewölben unter dem Felsenkloster kennengelernt hatten.

Es geht noch zwei weitere Stockwerke nach unten. Wieder ist eine Stahltür mit biomorphischer Erkennung des wundertätigen Forschers zu überwinden. Offenbar ist man hier – mehr noch als in Semhur – darauf bedacht, das Eindringen unautorisierter Personen unter allen Umständen zu verhindern. Dem geübten Blick von James entgehen die versteckten Kameras nicht, die jeden Winkel der Gänge und Türen erfassen, so dass es unmöglich ist, sich vor ihnen zu verstecken.

James und Klara haben fast Mühe zu folgen, denn Brookman schreitet ihnen so schnell voran, das sie Sorge haben, er könnte stolpern und das Ei im Fall zerbrechen. Dennoch ist kein Wort von den sorgenden Eltern zu vernehmen. Für klare Gedanken und Gefühle bleibt in diesem Moment rasender Erregung keine Zeit. Beide sind voll damit beschäftigt, dem voraneilenden Wissenschaftler zu folgen.

 

»Bitte warten Sie hier!« Brookman hat die Agramoffs in einen Kontrollraum geführt, in dem einige, ebenfalls weißgekleidete Männer arbeiten, die sie offenbar schon erwartet haben. Keiner von ihnen trägt die Gesichtszüge, die für die Einwohner von Amthum oder der umliegenden Länder charakteristisch sind. Eine lange Reihe von Monitoren und Schaltpulten ist vor einem großen Fenster aufgebaut, durch welches man in einen zweiten Raum sehen kann, in dem eine riesige, runde Röhre zu erkennen ist.

 

»Wir machen zunächst eine EchtzeitMagnetresonanztomographie, bevor wir elektrophysiologische Messungen anschließen.« Mit diesen Worten verschwindet Brookman in dem zweiten Raum und platziert das Ei auf einer offenbar bereits vorgefertigten Halterung im Inneren der Röhre. Sofort kehrt er wieder in den Kontrollraum zurück.

»Schneller Scan«, ist sein erster knapper Befehl. Die Bildschirme zeigen wandernde Querschnitte aus dem Inneren des Eis. Was jetzt zu sehen ist, sagt den Agramoffs wenig; es sind immer wieder neue Scheibchen, die für sie zunächst ohne Bedeutung sind.

 

»Dreidimensional …« Es dauert einige Sekunden, dann erscheint auf einem der Bildschirme das Bild eines kleinen menschlichen Körpers.

»Drehen – in allen Richtungen …« Jetzt rotiert das kleine, eng im Ei zusammengefaltete Wesen um seine eigene Achse, stellt sich auf den Kopf und wieder auf den Po. Das Bild ist irgendwie anders, als Klara und James es erwarteten. Zunächst ist ihnen nicht bewusst, was diese fremdartige Anmutung auslöst. Dann dämmert Klara: Das hier sieht nicht aus wie ein Baby, es hat nicht den typischen großen Kopf und die kleinen Beinchen! Auf den Bildschirmen im Kontrollraum sind verschiedene Versionen des Körpers eines Erwachsenen zu sehen, der sich in eine sehr enge Kiste gequetscht hat!! Das Ei ist nur 15 Zentimeter lang, also dürfte das darin zusammen gefaltete Wesen vielleicht 25 Zentimeter groß sein, wenn es aufrecht steht!

»Anatomisch scheint alles in Ordnung zu sein, jetzt Echtzeit …« Wortlos folgen die Mitarbeiter den Anweisungen ihres Chefs. Atemlose Stille herrscht im Raum. Noch ist nicht klar, ob das kleine Wesen am Leben ist.

 

Wieder erscheinen Bilder des Winzlings auf den Schirmen. »Es lebt!!«, schreit Klara in die Stille. Tatsächlich, eben haben sich die Arme bewegt. Je mehr Bilder erscheinen, desto eindeutiger ist die Diagnose: Das Kleine wedelt ein wenig mit den Ellenbogen und wackelt gelegentlich auch mit dem Kopf – soweit die Enge seines Gehäuses dies erlaubt.

 

James und Klara fallen sich in die Arme. Sie kann ihr Schluchzen nicht mehr unterdrücken und auch James rinnen stille Tränen die Wangen herunter. Brookman lässt sich in einen Drehstuhl fallen und starrt auf das verschlungene Paar. Er kann seinen Blick nicht von ihnen wenden. Die Mitarbeiter vertiefen sich diskret in eifriges Klicken auf ihren Keyboards, erzeugen bewegte Bilder aus verschiedenen Perspektiven und speichern die Ergebnisse.

 

Ohne eine Anweisung ihres Chefs abzuwarten, spulen sie das gesamte Programm der Feindiagnostik ab. Ein schlagendes Herz wird sichtbar, einzelne Organe treten hervor, werden durch Falschfarben plastischer und schließlich durch andere Bilder ersetzt. Es dauert vielleicht zehn Minuten, bis alle wichtigen Organe und Organfunktionen analysiert sind. Klara und James stehen die ganze Zeit eng umschlungen und verfolgen nur gelegentlich mit tränenverhangenen Blicken die Monitore. Zeigt einer der Männer an den Bildschirmen ein Anzeichen von Sorge? Wird ein Organ immer wieder gescannt – vielleicht weil hier Anzeichen von Missbildungen zu erkennen sind?

 

 Brookman ist in seinem Sessel zusammen gesunken, hat den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Vielleicht hat er sich in tiefe meditative Trance fallenlassen. Von außen erscheint es jedoch, als ob er schliefe.

 

Plötzlich springt er auf und setzt sich vor einen der Monitore: »Feindiagnostik Ergebnisse …« Einer der Mitarbeiter führt Brookman die wichtigsten Daten und Bilder vor, die in der letzten Viertelstunde gewonnen wurden. In immer schnellerer Folge ist ein gepresstes »Weiter!!« von Brookman zu hören; neue Bilder und Datensätze erscheinen auf den Bildschirmen. Nur wenige Sekunden leuchten sie auf, bis sie durch ein herrisches »Weiter!« verscheucht und durch andere ersetzt werden.

 

Schließlich tritt wieder Stille ein. Alle Augen richten sich auf den Professor, auf dessen Glatze Schweißperlen entstanden sind, von denen einige nun in dem Haarkranz versickern, der ihm noch geblieben ist. Klara kann ihre Augen nicht von diesem Anblick lösen, an dem sich ihre unruhig umherflirrenden Augen festgesaugt haben, nachdem die Tränen versiegten. James hält sie immer noch in den Armen und hat den Kopf auf ihre Schulter gelegt, seine Augen sind geschlossen.

»Könnte nicht besser sein, jetzt machen wir die Elektrophysiologie.« Brookman hat sich wieder gefangen, greift mit schnellen Bewegungen ein paar Papiertaschentücher und wischt den Schweiß von Stirn und Glatze.

 

James und Klara schnürt es die Kehle zu. Eigentlich würde sie ihre Anspannung gerne in einem erlösenden Jubelschrei entladen und den Schwall von Fragen loswerden, der ihr Gehirn durchzuckt. Die gespannte, wortlose Disziplin der Mitarbeiter an den Computerbildschirmen und die gepresste Erregung, mit der Brookman seine Kommandos von Zeit zu Zeit in die Stille des Raumes entlädt, machen es ihnen unmöglich, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Zudem sind die Untersuchungen offensichtlich noch nicht abgeschlossen.

 

»Was ist, wenn sich jetzt noch irgendwelche funktionellen Defekte zeigen, das Wesen zwar keine Missbildungen hat, aber wichtige Organe – wie zum Beispiel im Gehirn – geschädigt sind??« An die Stelle der eben verscheuchten Angst vor einem maroden Kadaver im Ei sind sofort die subtileren Sorgen getreten. Noch besteht kein Grund zum Jubel!

»Kommen Sie mit!« Brookman ist aufgesprungen und verlässt mit schnellen Schritten den Raum. Er holt das Ei aus der MRTRöhre und eilt den Gang hinunter, ohne sich zu vergewissern, ob die Agramoffs ihm auch folgen. Das Ei trägt er nun mit beiden Händen wie einen Kelch vor sich her, der randvoll mit Flüssigkeit gefüllt ist und den er vorsichtig balancieren muss, um nichts zu verschütten. Seine Schritte sind langsam, fast zeremoniell geworden. Der Weg durch die Flure bekommt dadurch die Anmutung einer Prozession, die sich auf dem Wege zu einer heiligen Handlung befindet. Der Kontrast zum bisherigen Verhalten von Brookman könnte nicht deutlicher sein. Bisher war das Ei für ihn ein hochinteressantes Untersuchungsobjekt; jetzt trägt er es mit der Sorgfalt eines verängstigten Vaters vor sich her.

 

Schnell ist ein Raum erreicht, in dessen Mitte ein Drahtkäfig steht, um den herum eine Vielzahl elektronischer Geräte aufgebaut ist. Brookman platziert das Ei in dessen Mitte und schließt zahlreiche Elektroden an, die mit Saugnäpfen an der Schale des Eies fixiert werden. Offensichtlich hat man auch in diesem Labor bereits Vorbereitungen getroffen. Hier sind es nur zwei – sichtbar ausländische – Mitarbeiter, welche die Untersuchungen durchführen werden.

»Haben Sie noch irgendwelche Fragen oder Ergänzungen zum experimentellen Programm, welches ich Ihnen vor ein paar Stunden übermittelt habe?« Brookman, wendet sich an den älteren der beiden Mitarbeiter, der vielleicht Mitte 50 sein mag, jedoch bereits vollständig ergraut ist. »Nein, ich denke, wir sollten genauso vorgehen«, ist die lapidare Antwort, die allerdings im Tonfall eines kompetenten Kollegen und nicht dem eines diensteifrigen Mitarbeiters erfolgt.

 

Wieder vergehen spannungsgeladene Minuten vollständiger Stille, die noch geheimnisvoller erscheinen, weil das Licht im Raum fast erlischt, als die Untersuchungen beginnen. Nun dominiert das Flirren von Kurven und Leuchten von zahllosen kleinen Lichtern die Wahrnehmung der Agramoffs. Sie halten sich an den Händen und verlieren immer mehr von dem Bewusstsein ihrer eigenen Körperlichkeit; lösen sich auf im Schauen, werden eins mit dem Flackern und Piepen, welches den ganzen Raum mit Botschaften von ihrem kleinen Kind im Ei auszufüllen scheint. Spricht es zu ihnen durch die flimmernden Kurven seiner Hirnströme? Funktioniert das zentrale und periphere Nervensystem oder wächst hier vielleicht ein animalischer Idiot heran, der nie über das intellektuelle Niveau einer Made hinauskommen wird?

»Warum peinigen mich schon wieder neue grässliche Sorgen, wo ich doch eigentlich in dankbarem Jubel auf den Knien liegen sollte?«, fragt sich Klara insgeheim.

 

In James keimt schlechtes Gewissen auf: Er hatte das Kleine im Ei schon lange aufgegeben – jetzt sendet es Lebenszeichen an seinen ungläubigen Vater. Der jedoch denkt schon darüber nach, was sie wohl mit einem debilen Wesen anfangen sollten, das aus einem Ei schlüpft und außer seiner Körperform vielleicht wenig Menschliches hat. James unterdrückt diese Gedanken schamvoll und schnell; sie springen jedoch hurtig und immer wieder in sein Bewusstsein zurück.

 

Wenn Brookman die Ergebnisse eindeutig genug erscheinen, ertönt sein abgehacktes »Weiter«, mit dem er schon die Analyse der Magnetresonanztomographie vorangetrieben hatte. Diesmal zieht er sich jedoch nicht unter den Schutzmantel einer meditativen Trance zurück. Seine Blicke wandern zwischen den verschiedenen Bildschirmen hin und her. Die Aktionen seiner Mitarbeiter sind ruhig und routiniert. Ihr Chef scheint ihnen vollständig zu vertrauen. Nicht ein einziges Mal greift er in deren Aktionen ein.

 

»Es wird Zeit, dass wir ihm zuhören – elektrophysiologisch ist alles in Ordnung!« Mit diesen Worten ergreift Brookman das Ei und verlässt den Raum. Wieder trägt er das kleine Wesen mit beiden Händen und ausgestreckten Armen vor sich her und setzt vorsichtig einen Schritt vor den anderen.

 

Nur ein paar Türen weiter befindet sich ein Labor, welches sich von dem eben verlassenen auf den ersten Blick kaum unterscheidet. Wieder Elektronik und zwei ältere Mitarbeiter in weißen Kitteln, die bereits mit der Vorbereitung der nun folgenden Untersuchungen beschäftigt sind. Diesmal wird aber nur ein einziges Kabel mit einem Saugnapf am Ei befestigt. Der Raum wird dunkel und man hört ein schnelles pulsierendes Klopfen, welches sich in Kurven auf den Bildschirmen wieder spiegelt.

 

»Kardiologischer Funktionsstatus«, sagt Brookman. Frequenzen werden verglichen, überlagert und in unterschiedlichen Programmen analysiert. »Herzkreislauf Funktionen sind in Ordnung«, hören James und Klara wie von Ferne, denn ihr Bewusstsein hat sich bereits wieder mit den flackernden Geräten und Bildschirmen verbunden, als wären dies ihre eigenen Sinnesorgane, als könnten sie den Herzton des Kleinen mit eigenen Ohren aus dem Ei heraus erlauschen. Wie sehr hatten sie in all den schrecklichen Stunden banger Erwartung darauf gehofft, eine solche Sensorik zu besitzen!

 

»Optische Stimulation!« Jetzt brennt ein stark fokussierter Lichtstrahl einen kleinen hellen Kegel auf die Schale des Eis. Sofort erhöht sich die Frequenz des Herzschlages. Dann kommt der Lichtkegel aus einer anderen Richtung – der gleiche Effekt. Schließlich wechseln die Lichtstrahlen, die auf das Ei aus unterschiedlichen Richtungen treffen, in schneller Folge. Die Lautsprecher lassen ein ängstlichschnelles Pochen hören, so wie auch die Bildschirme immer aufgeregter flackern.

»Frau Agramoff, sprechen Sie mit dem Kleinen!«, sagt Brookman plötzlich und erweckt die beiden aus ihrer angespannten Starre; holt ihren Geist zurück in den Körper und zur Wahrnehmung der Menschen um sie herum.

 

»Was, wie … was soll ich denn sagen …?« Klara ist fassungslos.

»Es muss eine Stimme sein, die es erkennt. Haben Sie nie mit ihm gesprochen?“ Brookmans Stimme klingt jetzt sanft, leise und mitfühlend.

 

»Eigentlich nicht, eher gesummt oder auch mal gesungen … Wie kann man mit etwas sprechen, von dem man nicht einmal ahnen kann, was es ist oder wer es ist?« Klara hat Mühe, nicht wieder in Tränen auszubrechen. Hat sie als werdende Mutter versagt, weil sie nicht mit dem Kleinen im Ei gesprochen hat?

 

»Übrigens – es ist ein Junge, falls Sie das interessiert.« Brookman hat offenbar gespürt, dass Klara kurz vor einem emotionalen Zusammenbruch steht und kehrt wieder zu seinem abgehackten, trockenen Tonfall zurück – vermutlich um eine Eskalation der Situation in letzter Minute zu vermeiden.

 

»Dann summ doch einfach ...«, lässt sich James jetzt leise hören.

Klara tritt nach vorne, beugt ihren Kopf ganz nahe an das Ei, legt ihre Hand auf die Schale und fängt an zu summen, so wie sie es häufig getan hat – besonders wenn James schon eingeschlafen war oder in den einsamen Stunden, die sie in der Kajüte auf dem hilflos im Ozean treibenden Segelschiff verbracht hat. Es ist das Summen einer Mutter, die ihr Kind in den Schlaf wiegt und ihm so die Sicherheit und Wärme vermittelt, die es vor allem Anderen ersehnt.

 

Die Herztöne werden sofort ruhiger, aber plötzlich mischt sich ein anderes Geräusch in das sanfte Pochen: »Mmmmm, miiiiiiiii, mooooooo, …« Das am Ei angeheftete Mikrofon überträgt Töne eines kleinen Stimmchens, das seiner Mutter antwortet. Klara summt wieder: die gleiche Reaktion mit kleinen Variationen.

 

Mit einmal verstummt Klara, beugt sich langsam vornüber und sackt in sich zusammen. Blitzschnell hat Brookman sie ergriffen und verhindert so, dass sie mit ihrem fallenden Körper das Ei gefährdet. James erwacht aus seiner Starre und greift von der anderen Seite nach seiner Frau, so dass beide ihren bewegungslosen Körper auffangen können. Auch die Wissenschaftler sind aufgesprungen, haben in Sekunden eine Decke auf der Erde ausgebreitet, auf die Klara nun vorsichtig gebettet wird. Aus dem Ei erklingt immer noch ein zaghaftes »Miiiii, Mmmmmmmmm, Maaaaaaa ...«, aber niemand antwortet.